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»Manchmal haben Sie einen Ausdruck im Gesicht, der mich an meinen Vater erinnert, bevor er starb«, sagte Mila Milo fröhlich und ohne daran zu denken, wie dieser Satz möglicherweise bei seinem Adressaten ankam. »Irgendwie vage, wie ein Bild, bei dem die Hand des Fotografen ein bißchen gezittert hat. Wie Robin Williams in diesem Film, in dem er ständig unscharf ist. Einmal habe ich Dad gefragt, was das bedeutet, und er hat gesagt, so sähen Leute aus, die zu viel Zeit in der Gegenwart von anderen Menschen verbracht hätten. Die menschliche Rasse ist ein lebenslängliches Urteil, sagte er, sie ist verschärfte Haft, und manchmal müssen wir alle aus dem Gefängnis ausbrechen. Er war Schriftsteller, meistens Dichter, aber auch Romancier, Sie werden noch nie von ihm gehört haben, aber auf serbokroatisch gilt er als ziemlich gut. Eigentlich mehr als ziemlich gut, ganz wundervoll, einer der Besten der Besten. Nobelisable, wie die Franzosen sagen, aber er hat ihn nie gekriegt. Nicht lange genug gelebt, nehme ich an. Trotzdem. Glauben Sie mir. Er war gut. Seine starke Verbindung mit der Natur, sein Gespür für die Antike, für Folklore: So einer war er. Kobolde, die ins Herz der Blüten hinein- und wieder herausspringen, damit habe ich ihn immer geneckt. Blüten in den Koboldherzen wäre noch besser, hat er geantwortet. Die Erinnerung an einen reinen, glänzenden Fluß, die in Satans Herz zurückbleibt. Die Religion war wichtig für ihn, wissen Sie. Er hat fast immer in der Stadt gelebt, seine Seele aber hat in den Bergen gewohnt. Eine alte Seele, haben die Leute von ihm gesagt.

Aber im Herzen war er auch jung, wissen Sie. War er wirklich. Ein Faß voller Affen. Meistens. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat. Nie haben sie ihn in Ruhe gelassen, haben mit seinem Kopf rumgemacht. Nachdem er vor Tito geflohen war, haben wir jahrelang in Paris gelebt, ich habe dort die Amerikanische Schule besucht, bis ich acht, fast schon neun war, leider war meine Mom gestorben, als ich drei war, dreieinhalb, Brustkrebs, was kann man machen, er hat sie sehr schnell und sehr qualvoll umgebracht, sie ruhe in Frieden. Jedenfalls kriegte er Briefe von zu Hause, die habe ich für ihn geöffnet, und da, auf der ersten Seite des Briefes von, ich weiß nicht, seiner Schwester oder so, prangte ein dicker, offizieller Stempel: Dieser Brief wurde nicht zensiert. HA! Mitte der Achtziger kam ich mit ihm nach New York, um an der großen PEN-Konferenz teilzunehmen, der berühmten, bei der es diese vielen Parties gab, eine im Temple of Dendur im Metropolitan und eine andere in Saul und Gayfryd Steinbergs Wohnung, und niemand konnte sagen, welche großartiger war, und Norman Mailer lud George Shultz ein, in der Public Library zu sprechen, deswegen boykottierten die Südafrikaner die Veranstaltung, weil er, na ja, für die Apartheid war, und Shultz’ Sicherheitsleute wollten Bellow nicht einlassen, weil er seine Einladung vergessen hatte, deswegen galt er als eventueller Terrorist, bis Mailer sich für ihn verbürgte, das wird Bellow gefallen haben! Und dann protestierten die Schriftstellerinnen, weil die Redner fast ausschließlich Männer waren, und entweder Susan Sontag oder Nadine Gordimer beschimpfte sie; Nadine oder Susan, hab vergessen, welche von beiden meinte, die Literatur sei kein Arbeitgeber, der auf Gleichstellung Wert lege. Und Cynthia Ozick war es, glaube ich, die Bruno Kreisky beschuldigte, ein Antisemit zu sein, obwohl er a) Jude war und b) der europäische Politiker, der die meisten russisch-jüdischen Flüchtlinge aufgenommen hatte, und das alles, weil er ein Treffen mit Arafat hatte, ein einziges Treffen, also, dann sind Ehud Barak und Clinton jetzt völlige Antisemiten, stimmt’s?, ich meine, das wird doch eine internationale Judenhasser-Veranstaltung, da in Camp Cavid. Und außerdem sprach auch mein Dad, die Konferenz hatte so einen großspurigen Titel wie Die Vorstellung der Schriftsteller gegen die Vorstellung des Staates, und danach hat irgend jemand, hab ich vergessen, Breytenbach oder Oz, irgend so jemand, gesagt, daß der Staat keine Vorstellungskraft besitze, und Dad sagte, im Gegenteil, er habe nicht nur dies, sondern auch Humor, und er würde gern ein Beispiel dafür anführen, und dann hat er die Geschichte von dem Brief erzählt, der nicht zensiert war, und ich saß da im Publikum und war so stolz, weil alle lachten, und schließlich war doch ich diejenige, die den Brief geöffnet hatte. Zu jeder Sitzung begleitete ich ihn, was meinen Sie wohl? Ich war verrückt nach Schriftstellern, ich war mein Leben lang die Tochter eines Schriftstellers gewesen, und Bücher waren für mich das Allergrößte, und es war so cool, weil ich überall dabeisein durfte, obwohl ich noch so klein war. Es war so großartig, zu sehen, wie mein Dad endlich mit Gleichgesinnten zusammen war und man ihm so großen Respekt erwies, und außerdem waren da alle Namen mit den wirklichen Menschen verbunden, zu denen sie gehörten, Donald Barthelme, Günter Grass, Czeslaw Milosz, Grace Paley, John Updike, alle. Aber zum Schluß hatte mein Vater diesen Ausdruck im Gesicht, der gleiche wie bei Ihnen, und er ließ mich bei Tante Kitty aus Chelsea, nicht meine richtige Tante, sie und Dad hatten ungefähr fünf Minuten was miteinander - Sie hätten ihn sehen sollen, wie er bei Frauen war, er war so ein großer, sexy Kerl mit riesigen Händen und einem dicken Schnauzbart wie Stalin, glaube ich, und er sah den Frauen in die Augen und redete über Tiere in der Brunst, Wölfe, zum Beispiel, und das war’s, sie waren hin. Ich schwöre bei Gott, daß diese Ladies tatsächlich Schlange standen, er war in sein Hotelzimmer hinaufgegangen, und sie stellten sich draußen vor der Tür auf, wirklich in einer Reihe, die tollsten Frauen, die Sie sich vorstellen können, mit weichen Knien vor Geilheit; und es ist ein Glück, daß ich so gerne las, und außerdem konnte ich endlich mal das amerikanische Fernsehen genießen, deswegen ging’s mir gut, im anderen Zimmer, es ging mir gut, obwohl ich immer wieder so gern da rausgegangen wäre und die Frauen, die warteten, bis sie an die Reihe kamen, gefragt hätte, na ja, ob sie nicht was Besseres zu tun hätten, wissen Sie; es ist nur sein Schniedel, verdammt noch mal, machen Sie doch lieber was Besseres. Ja, ich habe viele Menschen schockiert, ich bin wohl schnell erwachsen geworden, weil Dad und ich immer zusammen waren, immer er und ich gegen den Rest der Welt. Also denke ich, daß er Tante Kitty mochte, sie muß wohl die Probe bestanden haben, denn ihr Preis war, daß sie zwei Wochen lang auf mich aufpassen durfte, während Dad mit zwei Professorinnen auf eine Wanderung in die, ich glaube, es waren die Appalachen ging; er wanderte gern in den Bergen, um von den vielen Menschen um ihn herum loszukommen, und wenn er zurückkehrte, sah er immer ganz anders aus, irgendwie klarer, wissen Sie. Ich hab das den Moses-Ausdruck auf seinem Gesicht genannt. Rückkehr vom Berg, Sie wissen schon, mit den Zehn Geboten. Nur waren es in Dads Fall gewöhnlich Gedichte. Jedenfalls, lange Story kurz gemacht, ungefähr fünf Minuten, nachdem er vom Schmusen mit den Profs auf dem Berg zurückkam, wurde ihm ein Posten an der Columbia University angeboten, und wir zogen endgültig nach New York. Was ich wunderbar fand, na klar, aber er war, wie ich schon sagte, ein Naturmensch und auch ein in der Wolle gefärbter Europäer, deswegen war es für ihn schwerer. Immerhin, er war daran gewöhnt, mit dem zurechtzukommen, was da war, daran gewöhnt, mit allem fertig zu werden, was ihm das Leben so in den Weg legte. Okay, er trank wie ein echter Jugoslawe, und er rauchte ungefähr hundert pro Tag und hatte ein krankes Herz, er wußte, daß er nicht alt werden würde, aber er hatte eine Entscheidung für sein Leben getroffen. Sie wissen schon, wie in Der Nigger von der Narcissus. - Ich muß leben, bis ich sterbe. Und das hat er getan, er hat großartige Arbeit geleistet, er hatte großartigen Sex und rauchte großartige Zigaretten und trank großartigen Schnaps, und dann fing der verdammte Krieg an, und er verwandelte sich aus heiterem Himmel in diesen Menschen, den ich nicht kannte, diesen, na ja, es war wohl ein Serbe. Er haßte einen Kerl, den er als den anderen Milosevic bezeichnete, er haßte es, denselben Namen zu tragen, und das ist der eigentliche Grund, warum er ihn änderte, wenn Sie’s genau wissen wollen. Um Milo, den Dichter, von Milosevic, dem faschistischen Gangsterschwein, zu unterscheiden. Aber nachdem es da draußen im zukünftigen Ex-Jugoslawien drunter und drüber ging, hat er sich furchtbar über die Dämonisierung der Serben aufgeregt, obwohl er mit den meisten Analysen dessen, was Milosevic in Kroatien machte und später in Bosnien machen würde, einverstanden war, sein Herz empörte sich über diesen Anti-Serben-Kram, und in einem Wahnsinnsmoment entschied er, daß es seine Pflicht sei, heimzukehren und das moralische Gewissen des Landes zu sein, wissen Sie, wie Stephen Dedalus, in der Schmiede seiner Seele et cetera, et cetera oder wie ein serbischer Solschenizyn. Ich bat ihn, er soll damit aufhören, wer sei denn Solschenizyn, doch nur ein verrückter Alter, der in Vermont davon träumte, zu Hause in Mütterchen Rußland ein Prophet zu sein, aber als er dorthin zurückkehrte, wollte niemand mehr das alte Lied hören, das ist bestimmt nicht der Weg, den du gehen willst, Dad, denn für dich gibt’s Frauen und Zigaretten und Schnaps und Berge und Arbeit Arbeit Arbeit; ich wollte ihn lieber an all dem Zeug sterben sehen, ja, mein Plan war, er sollte Milosevic und seinen Killern fernbleiben, ganz zu schweigen von den Bomben. Aber er hat nicht auf mich gehört und nahm statt dessen eine Maschine dorthin, mitten in das Wüten hinein. Das hatte ich eigentlich sagen wollen, Professor, reden Sie mir nicht von Wut, ich weiß, was daraus entstehen kann. In Amerika herrscht trotz seiner Omnipotenz Furcht; es fürchtet die Wut der Welt und nennt es Neid, das hat jedenfalls mein Dad gesagt. Sie glauben, daß wir wie sie sein wollen, pflegte er nach ein paar Schnäpsen zu sagen, aber in Wirklichkeit sind wir einfach verdammt sauer und wollen es uns nicht mehr gefallen lassen. Sehen Sie, er wußte alles über die Wut. Aber dann vergaß er, was er wußte, und benahm sich wie ein verdammter Narr. Denn ungefähr fünf Minuten nachdem er in Belgrad gelandet war - aber vielleicht waren es fünf Stunden oder fünf Tage oder fünf Wochen, wen kümmert’s? -, riß ihn die Wut in Fetzen, und von ihm war nicht mal so viel übrig, daß man es aufsammeln und in eine Schachtel tun konnte. Also, ja, Professor. Und Sie regen sich über eine Puppe auf. Ich bitte Sie!«

 

Das Wetter hatte sich verändert. Die Hitze des Frühsommers war einer unsteten, unberechenbaren Witterung gewichen. Es gab viele Wolken und zuviel Regen, und Tage mit morgendlicher Hitze, die nach dem Lunch unvermittelt in Kälte umschlug, so daß die Mädchen in ihren Sommerkleidern genauso fröstelten wie im Park die Rollerbladers mit dem nackten Oberkörper und den geheimnisvollen Ledergürteln, die sie sich wie zur Kasteiung gleich unterhalb der Pektoralmuskeln fest um die Brust geschnallt hatten. In den Gesichtern seiner Mitbürger entdeckte Professor Solanka neue Verunsicherungen; alles, worauf sie sich verlassen hatten, sommerliche Sommer, billiges Benzin, die Wurfarme von David Cone und, jawohl, Orlando Hernandez, all das fing an, sie im Stich zu lassen. In Frankreich zerschellte eine Concorde, und die Menschen bildeten sich ein, in dieser furchtbaren Flammenhölle einen Teil ihrer eigenen Zukunftsträume aufgehen zu sehen, Träume von der Zukunft, in der auch sie die Barrieren durchbrachen, die sie zurückhielten, von der imaginären Zukunft ihrer eigenen Grenzenlosigkeit. Auch das Goldene Zeitalter muß einmal enden, dachte Solanka, wie all diese Perioden in der Chronik der Menschheit. Vielleicht begann diese Wahrheit gerade ins Bewußtsein der Menschen einzusickern wie der Sprühregen, der in den hochgeschlagenen Kragen ihres Regenmantels rinnt, wie ein Dolch, der durch die Schlitze ihrer gepanzerten Zuversicht dringt. In einem Wahljahr war Amerikas Zuversicht politische Währung. Ihre Existenz konnte nicht geleugnet werden; die Amtsinhaber rechneten sich den Kredit dafür an, ihre Gegner verweigerten ihnen diesen Kredit und nannten den Boom einen Akt Gottes oder wenigstens einen Akt Alan Greenspans von der amerikanischen Notenbank. Doch unsere Natur ist unsere Natur, und Unsicherheit ist der Kern dessen, was wir sind, Unsicherheit per se, dieses Gefühl, daß nichts in Stein gehauen ist, daß alles in Scherben fällt. Wie Marx vermutlich immer noch sagt, da draußen auf dem Schrottplatz der Ideen, dem intellektuellen St. Helena, auf das er verbannt wurde, alles, was fest ist, löst sich in Luft auf. In einem öffentlichen Klima solch tagtäglich hinaustrompeteter Sicherheit - wo hatten sich da unsere Ängste versteckt? Womit wurden sie genährt? Mit uns selbst, vielleicht, dachte Solanka. Während der Greenback allmächtig war und Amerika sich über die Welt erhob, feierten zu Hause psychologische Störungen und Verirrungen fröhliche Urständ. Unter der Wucht der selbstzufriedenen Rhetorik dieses umpaketierten, homogenisierten Amerika, dieses Amerika mit den zweiundzwanzig Millionen neuen Jobs und der höchsten Zahl von Haus- und Wohnungseigentümern in der Geschichte, in diesem Amerika des ausgeglichenen Staatshaushaltes, der geringen Verschuldung und der Aktienbesitzer waren die Menschen völlig gestreßt, brachen zusammen und redeten darüber den ganzen Tag in langen Endlosketten imbeziler Klischees. Bei den Jungen, den Erben der Fülle, war das Problem am akutesten. Mila, mit ihrer ultra-altklugen Pariser Erziehung, sprach häufig verächtlich von der Verwirrung ihrer Altersgenossen. Alle haben Angst, sagte sie, alle, die sie kannte, so gut ihre Fassade auch sein mochte, zitterten innerlich, und daß alle reich waren, spielte keine Rolle. Zwischen den Geschlechtern waren die Probleme am größten. »Die Boys wissen nicht mehr so recht, wie, wann oder wo sie die Mädchen anfassen sollen, und die Mädchen kennen kaum den Unterschied zwischen Verlangen und Angriff, Flirt und Offensive, Liebe und sexuellem Mißbrauch.« Wenn alles und jeder, den man anfaßt, sich auf der Stelle in Gold verwandelt, wie König Midas in dieser anderen klassischen Sage von der Vorsicht vor dem, was man sich wünscht, erfahren mußte, kann man schließlich gar nichts mehr und niemanden mehr anfassen.

Auch Mila hatte sich in letzter Zeit verändert, in ihrem Fall war diese Transformation nach Professor Solankas Meinung jedoch eine deutliche Verbesserung jenes oberflächlichen Kükens, das zwar ein Twen war, aber noch immer die Teenie-Queen spielte, als die sie unbedingt erscheinen wollte. Um ihren schönen Eddie zu halten, den College-Sporthelden - den sie Solanka als nicht die hellste Leuchte, aber ein lieber Kerl beschrieben hatte und für den eine intelligente, kultivierte Frau ganz zweifellos eine Bedrohung und ein Erotikkiller wäre -, hatte sie ihr eigenes Licht unter den Scheffel gestellt. Nicht ganz, mußte allerdings gesagt werden: Irgendwie hatte sie es schließlich geschafft, den Boyfriend und den Rest der Bengels in eine Kieslowski-Doppelfilmvorstellung zu locken, was entweder bedeutete, daß sie nicht so dumm waren, wie sie aussahen, oder daß sie eine noch größere Überredungskunst besaß, als Solkana ohnehin schon vermutete.

Tag um Tag erblühte sie vor Maliks verwunderten Augen zu einer jungen Frau voller Verstand und Kompetenz. Sie begann ihn zu allen Tageszeiten zu besuchen, entweder am Morgen, um ihn zu zwingen, ein Frühstück einzunehmen - er war es gewohnt, vor dem Abend nichts zu essen, eine Gewohnheit, die sie als einfach barbarisch und furchtbar ungesund für Sie bezeichnete, also begann er unter ihrer Anleitung in die Geheimnisse von Haferflocken und Kleie einzudringen und zu seinem frischen Kaffee am Morgen mindestens ein Stück Obst zu essen -, oder sie kam in den schwülen Nachmittagsstunden, die traditionell den verbotenen Liebesstunden vorbehalten waren. Aber Liebe hatte sie dabei nicht im Sinn. Sie machte ihn mit schlichteren Genüssen bekannt: grünem Tee mit Honig, Spaziergängen im Park, Einkaufsausflügen - Professor, die Lage ist kritisch; wir müssen umgehend drastische Maßnahmen ergreifen und Ihnen was Anständiges zum Anziehen kaufen - und sogar einem Besuch im Planetarium. Als er mit ihr mitten im Big Bang, dem Urknall, stand, ohne Hut, zwanglos gekleidet, neu und elastisch beschuht mit dem ersten Paar Sneakers, die er seit dreißig Jahren erstanden hatte, und sich fühlte, als sei sie seine Mutter und er ein Junge in Asmaans Alter - nun ja, vielleicht ein kleines bißchen älter -, wandte sie sich zu ihm um, beugte sich ein wenig hinunter, denn mit ihren Absätzen war sie mindestens fünfzehn Zentimeter größer als er, und nahm tatsächlich sein Gesicht in ihre Hände. »Da sind Sie, Professor, ganz am Anfang aller Dinge. Und gut sehen Sie aus. Also freuen Sie sich ein bißchen! Es tut gut, einen Neuanfang zu machen.« Rings um sie her wurde ein neuer Kreislauf der Zeit begonnen. So hatte es also angefangen: Bumm! Alles war auseinandergeflogen. Das Zentrum hatte nicht gehalten. Aber die Geburt des Universums war eine Wohlfühl-Metapher. Und was folgte, war nicht einfach Yeatssche Anarchie. Sieh an, Materie verschmolz mit anderer Materie, die Ursuppe wurde klumpig. Dann kamen Sterne, Planeten, Einzell-Organismen, Fische, Journalisten, Dinosaurier, Anwälte, Säugetiere. Leben, Leben. Ja, Finnegan, fang noch mal von vorn an, dachte Malik Solanka. Finn MacCool, hör auf zu schlafen und an deinem mächtigen Daumen zu lutschen. Finnegan, erwache!

Auch zum Reden kam sie, als habe sie ein tiefes Bedürfnis, sich auszutauschen. Dann sprach sie mit fast einschüchternder Offenheit und Geschwindigkeit, schonungslos; dennoch war der Zweck ihrer Selbstgespräche nicht der Schlagabtausch, sondern Freundschaft. Solanka, der ihre Worte in der beabsichtigten Bedeutung verstand, fühlte sich getröstet. Aus ihrer Konversation lernte er viel Wichtiges, griff sich die Weisheiten sozusagen im Flug; sie waren unbewachte Perlen der Freude, die überall in den Winkeln ihres Redestroms wie weggeworfenes Spielzeug herumlagen. Zum Beispiel dies, während sie erklärte, warum ein früherer Boyfriend sie verlassen hatte, eine Tatsache, die sie eindeutig genauso unmöglich fand wie Solanka: »Er war stinkend reich, und ich nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Das war ein Problem für ihn. Ich meine, ich war schon über zwanzig und hatte immer noch nicht mein unit.« Unit? Von Jack Rhinehart hatte Solanka erfahren, daß dieses Wort in bestimmten amerikanischen Kreisen für die männlichen Genitalien benutzt wurde, doch dafür, daß sie diese nicht hatte, war Mila bestimmt nicht der Laufpaß gegeben worden. Mila definierte den Ausdruck, indem sie mit ihm wie mit einem liebenswerten Kind sprach, und benutzte dabei den behutsamen, idiotengemäßen Tonfall, den Solanka gelegentlich bei ihr gehört hatte, wenn sie mit ihrem Eddie sprach. »Ein Unit, Professor, sind einhundert Millionen Dollar.« Solanka war wie benommen von der Schönheit, die in der Offenbarung dieses Faktums lag. Hundert Millis: der gegenwärtige Preis der Zulassung zu den elysischen Feldern der Vereinigten Staaten. So sah das Leben der Jugend im Amerika des bevorstehenden dritten Jahrtausends aus. Daß ein Mädchen von außergewöhnlicher Schönheit und hoher Intelligenz aus einem fiskalisch so präzisen Grund für unangemessen gehalten werde, erklärte Solanka Mila tiefernst, beweise nur, daß der amerikanische Standard in Herzensangelegenheiten oder wenigstens beim Paarungsspiel noch höher gestiegen war als die Grundstückspreise. »Bingo, Professor«, gab Mila zurück. Und dann brachen beide in ein Lachen aus, wie Solanka es aus seinem eigenen Mund seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte. Das ungezwungene Lachen der Jugend.

Er begriff, daß sie ihn zu einem ihrer Projekte gemacht hatte. Wie sich herausstellte, war Milas Spezialgebiet das Sammeln und Reparieren beschädigter Menschen. Sie war ganz offen, als er sie danach fragte. »Das ist etwas, das ich kann. Ich flicke Menschen zusammen. Manche renovieren Häuser. Ich renoviere Menschen.« In ihren Augen glich er einem alten Herrenhaus oder wenigstens diesem alten Duplex auf der Upper West Side, das er gemietet hatte, diese hübsche Wohnung, die vermutlich seit den Sechzigern nicht mehr aufgemöbelt worden war und inzwischen ein bißchen trostlos wirkte; drinnen und draußen, sagte sie, sei es Zeit für einen ganz neuen Anstrich. »Solange Sie nicht einen Korb voll lärmender, fluchender, Beedi rauchender Punjabi-Anstreicher vor meine Fassade hängen«, ergänzte er. (Die Bauarbeiter hatten ihre Arbeit zum Glück getan und waren verschwunden; nur die charakteristischen Geräusche des Großstadtlebens waren geblieben. Aber selbst dieser Lärm wirkte gedämpfter als zuvor.) Solanka zuliebe ließ sie sich auch über ihre Freunde, die Vampirvortreppentruppe, aus, die offensichtlich ein wenig mehr als reine Attitüden zu bieten hatte. Sie hatte auch sie bearbeitet und war stolz auf ihre - auf deren - Erfolge. »Es hat lange gedauert - die haben ihre Schülerbrillen und ihren scheußlichen Cord tatsächlich gemocht. Jetzt aber habe ich das Vergnügen, die modebewußteste Freak-Bande von New York anzuführen, und wenn ich Freak sage, Professor, meine ich genial. Diese Kids sind die coolsten, und wenn ich cool sage, meine ich hot. Der Filipino, der das 1 Love You-Virus losgeschickt hat? Vergessen Sie den. Das war die Nacht der Amateure; dies hier ist die Oberliga. Wenn diese Babies Gates mit einem Virus treffen wollen, können Sie wetten, daß der noch jahrelang niest. Sie sehen vor sich die Art von Surferboys und -girls, vor denen der Evil Emperor wirklich Angst hat, zu ihrer eigenen Sicherheit als Gen X-Slackers getarnt, um sie vor den Darths des Imperiums, Vader the Black und Maul the Red ’n’ Horny zu verstecken. Oder, nicht wahr, Sie mögen Star Wars nicht, dann sind sie eben wie die Hobbits, die ich vor Sauron und seinen Ringgeistern verstecke. Frodo, Bilbo, Sam Gamgee, die ganze Gefolgschaft des Rings. Bis die Zeit kommt und wir ihn herunterholen und seine Macht im Schicksalsweg verbrennen. Glauben Sie ja nicht, daß das nicht mein Ernst ist. Warum sollte Gates die Konkurrenz fürchten, die er hat, er hat sie alle bereits geschlagen: Sie sind seine Leibeigenen. Er hat sie kalt erwischt. Was ihm jedoch Albträume verursacht, ist, daß irgendein Kid aus einem Apartmentblock ohne fließend warmes Wasser und Fahrstuhl mit dem nächsten großen Ding auftaucht, dem Ding, das ihn zur Meldung von gestern macht. Veraltet. Deswegen kauft er Leute wie uns immer wieder aus, ist er bereit, jetzt ein paar Millionen zu verlieren, damit er morgen nicht seine Milliarden verliert. Yeah, ich halt’s mit den Gerichten, reißt den Laden in Stücke, zerlegt ihn gründlich, für mich kann’s gar nicht schnell genug gehen. Aber bis dahin habe ich für uns selbst große Pläne. Ich? Ich nenne mich Yoda. Rückwärts spreche ich. Umgekehrt denke ich. Von innen nach außen kehren kann ich Sie. Mächtig ist mit Ihnen die Macht? Am mächtigsten wirkt sie in mir. Ernsthaft«, schloß sie, ohne die Gummipuppenstimme zu benutzen, »ich bin nur das Management. Und gegenwärtig auch Verkaufs-, Marketing- und Werbe-Managerin. Alles schön rank und schlank halten, wie? Wie nennen Sie meine Vampire? Das sind kreative Künstler. Webspyder.net. Im Moment entwerfen wir Sites für Steve Martin, Al Pacino, Melissa Etheridge, Warren Beatty, Christina Ricci und Will Smith. Yeah. Und Dennis Rodman. Und Marion Jones und Christina Aguilera und Jennifer Lopez und Todd Solondz und ’NSYNC. Big Business? Wir sind drin. Con Ed, Verizon, British Telecom, Nokia, Canal Plus, wenn’s um die Kommunikationsbranche geht, da sind wir mittendrin. Sie wollen’s intellektuell? Hier sind die Boys, deren Telefone ununterbrochen von Leuten wie Robert Wilson, dem Thalia Theater in Hamburg und Robert Le-page klingeln. Ich sage Ihnen: Die sind an der Sache dran. Heutzutage herrschen neue Gesetze, Professor, und das hier ist die ultimative Gang. Butch, Sundance, die ganze Wild Bunch. Ich, ich spiele die Herbergsmutter. Und sorge dafür, daß die Fassade stimmt.«

Also hatte er sie falsch eingeschätzt, und sie waren Whiz Kids; bis auf Eddie. Sie waren die Sturmtruppen der technologisierten Zukunft, vor der er so große Befürchtungen hegte; wiederum bis auf Eddie. Doch schließlich war Eddie Ford Milas ehrgeizigstes Projekt gewesen, »bis Sie auftauchten. Also«, sagte sie, »haben Sie und Eddie mehr gemeinsam, als Sie dachten.«

Eddie hatte einen Wurfarm, der ihn weit von seinen Wurzeln in Nowheresville weg - und ganz bis nach Columbia, ja, bis in Mila Milos Bett hineingetragen hatte, eines der begehrtesten Fleckchen von Manhattan; letztlich aber spielt es keine Rolle, wie weit man den Football werfen kann. Die Vergangenheit kann man nicht wegwerfen, und in der Vergangenheit, zu Hause in Nowheresville, Nix., war Eddies junges Leben mit einer Tragödie befrachtet gewesen. Die handelnden Personen, deren feierlicher Ernst ihnen so etwas wie das Format einer griechischen Tragödie verlieh, wurden Solanka von Mila skizziert. Da war Eddies Onkel Raymond, der Vietnamheld, der sich jahrelang in einer unabomberischen Kate in den Tannenwäldern der Berge oberhalb der Stadt versteckte, weil er meinte, wegen seiner Versehrten Seele für die menschliche Gesellschaft untauglich zu sein. Ray Ford neigte zu gewalttätigen Wutausbrüchen, die in jenen entlegenen Höhen schon durch die Fehlzündung eines Lastwagens unten im Tal ausgelöst werden konnten, durch einen umstürzenden Baum, durch Vogelgesang. Und dann war da Rays Schlangenstinktierwiesel von Bruder, Eddies Mechanikervater Tobe, ein billiger Kartenspieler, billiger Trinker, ein Arschloch, dessen Verrat sie alle fürs Leben verkrüppeln sollte. Und letztlich war da Judy Carver, Eddies Mom, die zu jener Zeit noch nicht mit dem Nikolaus und Jesus zu verkehren begonnen hatte und die mit ihrem guten Herzen seit Anfang der Siebziger jede Woche in die Berge hinaufstieg, bis sie fünfzehn Jahre später, als der kleine Eddie zehn Jahre alt war, den Mann aus den Bergen in die Stadt herunterlockte.

Eddie erstarrte in Ehrfurcht vor diesem zotteligen, stinkenden Onkel und hatte mehr als nur ein bißchen Angst vor ihm; doch seine Kinderzeitausflüge zu Rays Hütte hinauf waren die Glanzlichter seiner Lebenserfahrung und für ihn die lebendigsten Erinnerungen, »besser als im Kino«, behauptete er. (Nach seinem fünften Geburtstag hatte Judy es sich angewöhnt, ihn mitzunehmen, weil sie hoffte, Ray in die Welt zurücklocken zu können, indem sie ihm die Zukunft zeigte, wobei sie sich auf Eddies Gutmütigkeit verließ, um das Herz des wilden Mannes für sich zu gewinnen.) Auf dem Weg in die Berge hinauf sang Judy alte Arlo-Guthrie-Songs, und der kleine Eddie sang mit: »It was late last night the other day, I thought I’d go up and see Ray, So I went up and I saw Ray, There was only one thing Ray could say, was, I don’t want a pickle, Just want to ride on my motorsickle ...« Doch dieser Ray war nicht der Ray aus dem Lied. Dieser Ray besaß keine Harley, und es gab keine Alice mit oder ohne Restaurant. Dieser Ray lebte von Bohnen und Wurzeln und vermutlich von Wanzen und Bakterien, schätzte Eddie, und von Schlangen, die er mit den bloßen Händen fing, und von Adlern, die er vom Himmel holte. Dieser Ray hinkte, hatte Zähne wie verfaultes Holz und einen Atem, der jeden nach ein paar Schritten umhaute. Und dennoch war dies der Ray, in dem Judy Carver Ford noch immer den hübschen Jungen zu sehen vermochte, der in den Krieg zog, den Jungen, der aus dem Silberpapier in den Zigarettenschachteln freistehende Figuren falten und der aus Tannenholz das Gesicht eines Mädchens schnitzen konnte, das er diesem dann für einen Kuß schenkte. (Puppen, staunte Malik Solanka. Kein Entkommen vor ihrem uralten Voodoo. Hier war schon wieder so ein gottverdammtes Puppenmachermärchen. Und schon wieder ein sanyasi. Das war es, was Mila gemeint hatte. Ein echterer sanyasi als ich, nahm er seinen Abschied von der Gesellschaft in der angemessen asketischen Form. Aber wie ich wollte er sich selbst vergessen, weil er Angst vor dem hatte, was unter der Oberfläche verborgen lag, was jeden Augenblick aufbrodeln und die unwürdige Welt in Schutt und Asche legen konnte.) Judy hatte Raymond sogar auch einmal geküßt, bevor sie diesen furchtbaren Fehler beging und sich für Tobe entschied, den sein schlimmer Rücken vor der Einberufung bewahrte und vor dessen schlimmem Charakter niemand sie bewahren konnte; niemand außer Ray, dachte sie. Wenn Ray aus seiner Festung herabstieg, wäre das vielleicht ein Zeichen, und die Dinge würden sich ändern, und die Brüder konnten angeln und bowlen gehen, und Tobe würde sein Verhalten ändern, und dann bekam sie vielleicht ein bißchen Frieden. Und schließlich kam Ray Ford tatsächlich, gewaschen und rasiert, in einem sauberen Hemd, so geschniegelt, daß Eddie ihn nicht erkannte, als er zur Tür hereinkam. Judy hatte ihr Namenstagsdinner gekocht, das gleiche Festessen, das sie später den Herren Nikolaus und Jesus Christus auftischte, und eine Zeitlang ging alles gut; nicht allzu viel Gerede, aber das war okay, alle versuchten sich daran zu gewöhnen, miteinander unter einem Dach zu leben.

Beim Eisnachtisch begann Onkel Ray zu sprechen. Judy war nicht die einzige Frau gewesen, die ihn oben in den Wäldern besucht hatte. »Es hat noch eine andere gegeben«, sagte er zögernd. »Eine Frau namens Hatty, Carole Hatty, die weiß, daß ein paar von uns da oben in den Wäldern hausen, und weil sie ein gutes Herz hat, ist sie manchmal gekommen, um uns Kleider und Pies und so zu bringen, obwohl es da wirklich verrückte Kerle gibt, die auf alles, was ihnen auf drei Meter nahe kommt, mit der Axt losgehen, auf Mann, Frau, Kind oder tollwütigen Hund.« Während er von der Frau erzählte, wurde Onkel Ray puterrot und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ist sie sehr wichtig für dich, Raymond? Sollen wir sie mal zu uns einladen?« Worauf sich das Schlangenstinktierwiesel ihm gegenüber am Küchentisch auf die Schenkel schlug und lachte, ein lautes, besoffenes Schlangenstinktierwieselverräterlachen, er lachte, bis ihm die Tränen kamen, dann sprang er auf, wobei er seinen Stuhl umkippte, und sagte: »Oh, oh, Carole Hatty. Carole Leichtzuhaben vom Big Dipper Diner an der Hopper Street? Die Carole Hatty? Huu. Mann, ich hätte nicht gedacht, daß sie so viel Zucker braucht, daß sie sogar zu dir raufsteigt, um noch mehr davon zu kriegen. Verdammt, Ray, du bist nicht auf dem laufenden. Wir Jungs, wir haben Klein Carole regelmäßig gebumst, seit sie fünfzehn und ganz wild darauf war.« Jetzt sah Ray zu Eddie hinüber, mit einem furchtbar leeren Blick, und selbst mit seinen zehn Jahren verstand Eddie die Bedeutung dieses Blickes, spürte er, wie tief seinen Onkel Ray der Dolchstoß in den Rücken getroffen hatte, weil Raymond Ford auf seine Art hatte sagen wollen, daß er aus seiner Bergfestung nicht nur wegen der Liebe seiner Familie - Eddies Liebe, sagte der Blick - heruntergekommen war, sondern auch wegen dem, was er für die Liebe einer guten Frau gehalten hatte; nach all den langen, zornigen Jahren war er in der Hoffnung gekommen, sein Herz von all diesen Dingen heilen lassen zu können, und Tobe Ford hatte diese beiden Luftballons zerstochen, hatte ihn mit einem einzigen Stoß zweimal ins Herz getroffen.

Nachdem Tobe ausgeredet hatte, stand der große, schwere Mann auf, und Judy fing an, die beiden anzuschreien, und versuchte gleichzeitig, Eddie hinter sich zu ziehen, weil das Schlangenstinktierwiesel, ihr Ehemann, eine kleine Pistole in der Hand hielt, mit der er auf das Herz seines Bruders zielte. »Also, Raymond«, sagte der alte Tobe und grinste, »dann überlegen wir doch mal, was die Bibel über das Thema Bruderliebe zu sagen hat.« Ray Ford verließ das Haus, und Judy hatte so große Angst, daß sie zu singen anfing »Late last night I heard the screen door slam«, und da verließ auch Tobe das Haus, während er sagte, er brauche sich den Mist nicht anzuhören, der hier verzapft werde, sie könne ihre Meinung nehmen und sich dahin stecken, wo die Sonne nicht scheint, hast du verstanden, Jude? Sag du mir nicht, was ich tun soll, du Schlampe, du bist nur meine beschissene Ehefrau, und wenn dir die Bemerkungen deines Mannes nicht passen, dann geh doch und lutsch den Schwanz vom alten, verrückten Raymond. Tobe ging davon, um drüben im Corrigan-Muskelshop, wo er arbeitete, Karten zu spielen, und noch vor Morgengrauen war Carole Hatty mit gebrochenem Genick in einer Gasse gefunden worden, und nirgends eine Spur von einer Waffe. Damals machte sich das Schlangenstinktierwiesel davon und kam nicht mehr vom Kartenspielen zurück, und obwohl Tobias Ford, bewaffnet und gefährlich, in fünf Staaten zur Fahndung ausgeschrieben war, fand niemand jemals eine Spur von ihm. Eddies Mutter war der Ansicht, der Bastard sei in Wirklichkeit die ganze Zeit eine getarnte Schlange gewesen, sei einfach aus seiner menschlichen Haut geschlüpft, habe sie abgeworfen, und sie sei im selben Moment zu Staub zerfallen, und eine Schlange mehr würde in der Umgebung von Nowheresville nicht weiter auffallen, wo selbst die Gotteshäuser voll Klapperschlangen und Diamantschlangen waren, und dahinter verbargen sich nur die Geistlichen. Laß ihn gehen, sagte sie, hätt ich gewußt, daß ich ’ne Schlange heirate, hätte ich lieber Gift getrunken, bevor ich vorm Altar ja gesagt hätte.

Judy suchte Trost bei ihrer wachsenden Sammlung von Jack-und-Jim-Quartetten, aber nach dem, was geschehen war, machte Eddie Ford ganz einfach den Mund zu und sprach kaum zwanzig Wörter am Tag. Genau wie sein Onkel, nur ohne die Stadt zu verlassen, hatte er sich von der Welt verabschiedet, sich im eigenen Körper eingeschlossen, und als er heranwuchs, konzentrierte er die immensen Energien dieses neuerdings so kräftigen Körpers darauf, den Football zu werfen, warf ihn härter und schneller als jemals ein anderer in Nowheresville, als könne er sich, indem er ihn bis in den Weltraum hinauf schleuderte, vom Fluch seines Blutes befreien, als sei ein Touchdown-Pass dasselbe wie Freiheit. Und schließlich warf er sich selbst ganz bis zu Mila, die ihn vor seinen Dämonen rettete, ihn aus seinem inneren Exil erlöste, seinen schönen Körper, den er zu seiner Gefängniszelle gemacht hatte, zu ihrem Vergnügen nahm und ihm dafür Kameradschaft, Gemeinschaft, die Welt zurückgab.

Wohin man auch sieht, dachte Professor Malik Solanka, liegt Wut in der Luft. Wohin man auch lauscht, hört man den Flügelschlag der dunklen Göttinnen. Tisiphone, Alecto, Megaera: die alten Griechen fürchteten sich so sehr vor ihnen, ihren grausamsten Gottheiten, daß sie es nicht mal wagten, ihren richtigen Namen auszusprechen. Nannte man diesen Namen, Erinnyen, Furien, beschwor man dadurch vielleicht sogar selbst diese Damen des tödlichen Zorns herauf. Deswegen, und mit bitterer Ironie, nannten sie die wütende Trinität die Gutmütigen: Eumeniden. Dieser euphemistische Name vermochte jedoch leider keine Verbesserung der ewig schlechten Laune der Göttinnen herbeizuführen.

 

Anfangs suchte er der Versuchung, in Mila das fleischgewordene Braingirl zu sehen, zu widerstehen: nicht Braingirl, die hohle Neuerschaffung der Medien, nicht Braingirl, die Verräterin, das gehirnamputierte Püppchen aus der Brain Street, sondern ihr Original, das in Vergessenheit geratene B.G. aus der Anfangszeit, den Star von Braingirls Abenteuer. Zuerst sagte er sich, es wäre falsch, Mila das anzutun, sie dermaßen in eine Puppe zu verwandeln, aber - argumentierte er gegen sich selbst - hatte sie das denn nicht selbst getan, hatte sie nicht durch ihr eigenes Geständnis das frühe Braingirl zu ihrem Vorbild und ihrer Inspirationsquelle gemacht? Präsentierte sie sich ihm nicht eindeutig in der Rolle der Einzig Wahren, die er verloren hatte? Sie war, das wußte er jetzt, eine hochintelligente junge Frau; sie mußte vorausgesehen haben, wie ihr Auftreten bei ihm ankommen würde. Jawohl! Absichtlich, um ihn zu retten, offerierte sie ihm das Mysterium, das - wie sie irgendwie erraten hatte - seine tiefsten, obwohl niemals ausgesprochenen Wünsche erfüllte. Dann gestattete Solanka es sich allmählich und voll Schüchternheit, in ihr sein Geschöpf zu sehen, dem durch ein unerwartetes Wunder das Leben geschenkt worden war und das nun für ihn sorgte, wie es wohl eine Tochter getan hätte, die er niemals gehabt hatte. Dann verriet er sein Geheimnis durch einen Lapsus linguae, aber Mila schien nicht verärgert zu sein. Statt dessen schenkte sie ihm ein ganz persönliches, kleines Lächeln - ein Lächeln, das, wie Solanka konzedieren mußte, voll seltsamen, erotischen Vergnügens war, in dem etwas von der Genugtuung des geduldigen Anglers über den Köder lag, der endlich geschluckt wurde, und auch etwas von der verborgenen Freude der Souffleuse, wenn ein oft wiederholtes Stichwort endlich aufgenommen wird - und statt ihn zu korrigieren, antwortete sie ihm, als hätte er ihren richtigen Namen benutzt, und nicht den der Puppe. Überwältigt von einer nahezu inzestuösen Scham, errötete Malik Solanka heftig und versuchte sich stammelnd zu entschuldigen; woraufhin sie nahe an ihn herantrat, bis ihre Brüste sein Hemd berührten und er spürte, wie der Atem von ihren Lippen über die seinen strich, und sie murmelte: »Sie können mich nennen, wie Sie wollen, Professor. Wenns Ihnen guttut, dann ist das auch für mich in Ordnung.« So versanken sie täglich tiefer in ihrer Phantasie. Allein in seiner Wohnung an den verregneten Nachmittagen dieses verregneten Sommers, spielten sie ihr kleines Vater-und-Tochter-Spiel. Mila Milo begann ganz bewußt die Puppe für ihn zu sein, sich mehr und mehr genau wie die ursprüngliche Puppe zu kleiden und für den schnell erregten Solanka eine Reihe von Szenarien aus den ersten Shows zu spielen. Dann übernahm er etwa die Rolle des Machiavelli, des Karl Marx oder, am häufigsten, des Galileo, während sie, o ja, genau das war es, was er wollte; sie saß neben seinem Sessel und drückte sich an seine Füße, während er die Weisheit der großen Sagen der Welt von sich gab; und nach einer Weile zu seinen Füßen setzte sie sich auf seinen schmerzenden Schoß, obwohl sie, ohne daß ein Wort darüber verloren wurde, stets dafür sorgte, daß ein dickes Kissen zwischen ihrem und seinem Körper lag, so daß sie, wenn er, der geschworen hatte, mit keiner Frau zu schlafen, auf ihre Anwesenheit dort reagierte wie ein anderer, weniger entsagungsvoller Mann, daß sie es also nicht merken würde, daß sie es nie zu erwähnen brauchten und daß er niemals gezwungen sein würde, die gelegentliche Schwäche seines Körpers einzugestehen. Wie Gandhi seine brahmacharya-Experimente mit der Wahrheit machte, wenn er in der Nacht bei den Ehefrauen seiner Freunde lag, um die Herrschaft des Geistes über das Fleisch zu testen, wahrte er nach außen das Dekorum äußerster Schicklichkeit; genau wie sie, genauso wie sie.